Blog zu Themen und Fragen aus Philosophie und Kultur. Ich poste hier rund alle zwei Wochen bzw. mindestens einmal im Monat.
11.06.2024
Für mein Weiterbildungsformat Ethische Herausforderungen durch KI möchte ich KI-Narrative für einen Einstieg in die Thematik verwenden. Dass «Narrativ» kein scharfer Begriff ist, sehe ich für diesen Zweck als Vorteil. Narrative bzw. Metanarrative können als sinnstiftende Erzählungen verstanden werden, die einen starken Einfluss auf kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen haben (Lyotard 1979, Ricoeur 1984, Bruner 1986, Geertz 2002). Mit dem «narrative turn» hat sich Narrativität zu einem interdisziplinären Schlüsselbegriff entwickelt (Nünning 2011), der auch in die Medienforschung Eingang gefunden hat (vgl. Müller/Grimm 2016). Zwei Haupterkenntnisse meiner kleinen Recherche: 1. Fiktionale KI-Narrative haben einen grossen Einfluss auf nichtfiktionale KI-Narrative. Dieser Einfluss ist meistens nicht bewusst. 2. Im globalen Vergleich differieren KI-Narrative: im Westen eher negativ, im Osten eher positiv.
Mir sind KI-Narrative erstmals in der Jugend in SF-Büchern und -Filmen begegnet – meist in Robotergestalt wie C-3PO (Star Wars) oder T-800 (Terminator). Während C-3PO eher harmlos und lustig daherkommt, ist T-800 eine fast nicht zu stoppende, furchterregende Killer-KI. Nachhaltiger beunruhigt hat mich aber HAL-9000 (2001 Odyssee), der ganz ‹intelligent› (bzw. infam) auf einem Raumschiff unterwegs zum Jupiter einen Astronauten nach dem anderen auslöscht. In der Schlüsselszene des Films kann der einzige noch lebende Astronaut HAL-9000 im letzten Moment abschalten. Das von Stanley Kubrick filmisch meisterhaft geschilderte Duell zwischen menschlicher und maschineller Intelligenz blieb in meinem Gedächtnis hängen, weil HAL ganz anthropomorph auftritt. So ‹regrediert› er während des Abschaltprozesses und singt für sich – nachdem er realisiert hat, dass er den Abschaltprozess nicht stoppen kann – das Kinderlied Daisy Bell – wohl um sich zu beruhigen (so als ob eine KI ‹sterben› und vor ihrem ‹Tod› auch noch ‹Angst› verspüren könnte).
Dass fiktionale Erzählungen wie SF-Filme u. a. einen wichtigen Einfluss auf das kollektive Bewusstein (im Westen) haben, zeigt folgende Untersuchung auf: Nadine Hammele hat die narrative Struktur von 70 Science-Fiction-Filmen analysiert, die zwischen 1970 und 2020 veröffentlicht wurden, und daraus drei Metanarrative extrahiert (Hammele 2024):
• Das Bedrohungsnarrativ: Killerroboter und künstliche Superintelligenzen, die Menschenleben bedrohen (z.B. Terminator, Matrix, I, Robot).
• Das Befreiungsnarrativ: Menschenähnliche KI-Roboter, die nach Freiheit und Gleichstellung mit dem Menschen streben (z.B. Nummer 5 lebt!, Der 200 Jahre Mann)
• Das Beziehungsnarrativ: Liebesbeziehungen und Freundschaften zwischen Mensch und KI, die durch Konflikte auf die Probe gestellt werden (z. B. Her, A.I. – Künstliche Intelligenz, Robot & Frank).
Alle drei Metanarrative zeigen deutlich auf, welche Projektionen (Übertragungen) in Bezug auf Künstliche Intelligenz wirksam sind: die Angst, von einer Maschine beherrscht oder ausgelöscht zu werden, die Erwartung, dass künstliche Intelligenzen (Androide) menschlich werden, oder die Hoffnung, das Bedürfnis nach Zweisamkeit durch die Beziehung zu einer künstlichen Intelligenz auf neue, vielleicht umfassendere Art stillen zu können. Die Metanarrative zeigen ebenso auf, dass solche Projektionen durch Anthropomorphie zustandekommen. Nach meiner Interpretation führt genau dieser ‹Übertragungsmechanismus› zu den üblichen KI-Missverständnissen.
Die Untersuchung von Hammele korrespondiert mit den Befunden des GAIN-Projektes. Dieses untersuchte 2018 bis 2022 weltweit, wie KI in der Populärkultur dargestellt wurde und wird und welche Auswirkungen dies nicht nur auf Leser:innen und Kinobesucher:innen, sondern auch auf KI-Forscher:innen, militärische und staatliche Stellen sowie die breite Öffentlichkeit hat (vgl. auch Cave, Dihal & Dillon 2020). Ein wichtiges Ergebnis von GAIN ist, dass die eher negative Wahrnehmung von KI in westlichen Ländern stark von Filmerzählungen beeinflusst ist. «All the questions being raised about AI today have already been explored in a very sophisticated fashion, for a very long time, in science fiction», betont die GAIN-Leiterin Sarah Dillon (vgl. Roberts 2018). Ein weiteres auffälliges Ergebnis ist, dass es in der Wahrnehmung und Bewertung von KI deutliche interkulturelle Unterschiede gibt. So dominieren im Unterschied zu westlichen Ländern im ostasiatischen Kontext mehrheitlich positive KI-Narrative.
PS: In meinen nächsten Posts werde ich auf KI-Narrative aus der Sicht der Medienethik und auf Thesen zu den interkulturellen Unterschieden in der Wahrnehmung von KI eingehen.
Bild: DALL-E prompted by PN.
Pavel - 11:06 @ Philo-Blog | Kommentar hinzufügen
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